Unser Glaube

Das Gebet für die zu Gott entschlafenen

Über dieses Gebet

In unserer säkular und diesseitig orientierten Gesellschaft wird der Tod gemeinhin nur als ein biologisches Verlöschen des Zellorganismus, vor allem des menschlichen Zentralorgans, des Gehirns (Hirntod) verstanden. Insofern kann man aus dieser rein innerweltlichen Perspektive vom Tod als einem natürlichen biologischen Phänomen, das in der Endlichkeit der Reproduktionsfähigkeit menschlicher Zellen begründet liegt, sprechen. Insofern wäre der Tod das Verlöschen des Lebens und Auflösung des Leibes durch seine Rückkehr in die Erde. Viele der Agnostiker sowie die Atheisten verstehen den Tod gar in einer metaphysisch-materialistischen Form der Daseinsdeutung als eine Rückkehr in das „Nicht-Sein“.

Für gläubige Menschen ist der Tod, unabhängig von dem Glauben, den sie bekennen, niemals das „Verlöschen des Lebens“, ein „Ende der Existenz“ oder gar der „Übergang in das Nicht-Sein“. Alle drei großen monotheistischen Weltreligionen sind sich darin einig, dass durch die Loslösung der Seele vom Leib das Leben des Menschen nicht ausgelöscht und seine Existenz beendet wird. Vielmehr setzt sich die Existenz des Menschen auf einer anderen Ebene fort, die nicht unserer innerweltlich determinierten Erfahrung unterworfen ist.

Als orthodoxen Christen teilt uns die Göttliche Offenbarung, die gleichermaßen in der Heiligen Schrift sowie in der Heiligen Tradition enthalten ist mit, dass durch den Tod der Leib zur Erde zurückkehrt, aus der er von Gott erschaffen worden ist, die Seele aber zu Gott, der sie einst dem Leibe eingehaucht hat. Darüber hinaus sagt uns vor allem der heilige Apostel Paulus in seinen Briefen, dass der leibliche Tod eine Folge des geistlichen Todes, also der Tod eine Konsequenz der Sünde ist (vgl. Römer 6: 23).

Nach christlichem Verständnis ist der Tod nicht schöpfungsbedingt, sondern er ist als Folge der ersten Sünde in die Schöpfung eingedrungen. Insofern gehört der Tod nicht zur Schöpfungsnatur (griechisch ούσία = ousia) des für das ewige Leben erschaffenen Menschen. Auch wurde der Mensch nach dem Zeugnis der heiligen Väter nicht als sündiges, egoistisches Individuum, sondern als zur Liebe und Gemeinschaft mit Gott (Theosis) und zur Liebe und Gemeinschaft mit seinem Mitmenschen (Nächstenliebe) befähigte Person erschaffen. Der Tod ist nach christlichem Verständnis des Kosmos eine Zerstörung der Schöpfungsordnung und nicht der innere Antrieb des Lebens (wie im „Darvinismus“, wo sich aus dem tödlichen Konkurrenzkampf die Vielfalt der Arten erst entwickelt haben soll). Der Tod ist nach christlichem Verständnis ein Unfall, der durch die Ursünde der ersten Menschen in das Leben der Menschheit hineingedrungen ist. So wurde der Mensch sterblich und mit ihm die gesamte Schöpfung, die er als Mikrokosmos, wie die heiligen Väter sagen, also als lebendige Ikone der gesamten Schöpfung, in sich einschließt (vgl. Römer 8:22).

Christus hat in Seinem Erlösungshandeln unsere menschliche Natur aus dem Schoße der allheiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria angenommen. Er ist uns deshalb in allem gleich bis auf die Sünde, wie Er es Seiner Gottheit nach mit Gott, dem Vater, und Gott, dem Heiligen Geist, in dreipersönlicher vollkommener Einheit in der Allheiligen Dreiheit, dem Einen Gott, ist. Da Seine vollkommene menschliche Natur sündlos ist, konnten Ihn Tod und Grab auch nicht festhalten. Deshalb erstand Er siegreich vom Tode nach drei Tagen und bahnte damit aller menschlichen Natur den Weg vom Tode zu Leben. Christus, unser Erlöser, sagt deshalb über Sich, dass Er das Leben ist und dass Er in die Welt gekommen ist, damit die Welt das Leben habe und es im Überfluss habe (vgl. Johannes 14:6; 10:10). Dieser uns von Christus eröffnete Heilsweg ist aber zunächst einmal der Weg vom ewigen geistlichen Tode zum ewigen Leben. Da alle Menschen sei Adam bisher ohne Ausnahme gesündigt haben, sind sie auch alle ohne Ausnahme sterblich. Erst wenn mit der Wiederkunft Christi der Teufel überwunden und gestürzt sein wird, werden auch das Böse und die Sünde überwunden und aus der Schöpfung verschwunden sein. Denn werden auch der geistliche sowie der leibliche Tod ein für allemal überwunden sein.

Also auch nach der Auferstehung Christi leben und sterben die Menschen weiterhin. Nach dem Glauben der orthodoxen Kirche gelangen sie danach ins Jenseits, einen vorläufigen geistlichen Zustand, der je nachdem, was für ein Art Leben der betreffende Mensch geführt hat, als einen paradiesischer oder aber als höllischen Zustand erfahren wird.

Hierbei können wir nur aus dem Glauben und der geistlichen Erfahrung der orthodoxen Kirche sprechen, das heißt, wir können nicht über das jenseitige Schicksal aller Menschen - also auch der Nichtchristen oder zu anderen christlichen Glaubensgemeinschaften Gehörigen, sondern nur über das jenseitige Schicksal der Kinder der Kirche Christi sprechen. Das Los der übrigen Menschen, die nicht der orthodoxen Kirche angehört haben, ist ein Geheimnis, ein Mysterion, das die orthodoxe Kirche dem Erbarmen und der grenzenlosen Liebe Gottes, sowie dem persönlichen Gebet jedes Einzelnen, dessen Herz nicht verhärtet ist, anvertraut. Dies betrifft sowohl die Entschlafenen des alttestamentlichen Gottesvolkes, die noch nicht voraussehen konnten, dass ihre Seelen durch die Menschwerdung des Erlösers und Seinen Herabstieg in den Hades gerettet werden sollten; dies betrifft aber auch die Errettung all jener Menschen, die die Botschaft des Heiligen Evangeliums entweder gar nicht vernommen, oder die aber in einem von der Heiligen Kirche abgetrennten Teil der Christenheit gelebt haben.

Nur in der vollkommenen Gemeinschaft mit Christus, die allein im sakramentalen Gnadenleben der orthodoxen Kirche, der einzigen und wahren Arche des Heiles, ganz verwirklicht ist, lebt der Mensch auch jenes wahre geistliche Leben, das übereinstimmt mit seiner Natur als Geschöpf und Ebenbild des unsterblichen Gottes. Nur in Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, sind wir wahrhaftig unsterblich. Der freiwillig erlittene Tod des Erlösers und Seine Auferstehung von den Toten haben das Prinzip des Todes als einer Trennung von Gott aufgelöst und den Tod in ein Pas'cha verwandelt, also in einen Übergang zur Fülle des Lebens. Wer an Jesus Christus glaubt und mit Ihm vereint bleibt, der wird nicht sterben, sondern geht vom Tod zum ewigen Leben hinüber.

Deshalb sprechen wir auch in der kirchlichen Sprache nicht von „Toten“, sondern vielmehr in rechter Weise von den „Entschlafen im Herrn“. Denn für die Christen gibt es keinen Tod, sondern nur das „Entschlafen im Herrn“. Aber weil alle Menschen durch ihre Abstammung von Adam und Eva auch Anteil an Ursünde der ersten Menschen erhalten haben, haben sie auch alle dadurch Anteil am Erbtod erhalten. Der Glaube an Jesus Christus hebt den physischen Tod vor Seiner glorreichen Wiederkunft nicht auf, sondern die Sünden werden uns dann im Empfang der heiligen Taufe vergeben. Insofern erhalten wir jetzt schon durch den Empfang der Taufgnade Anteil am ewigen geistlichen Leben. Insofern hebt die heilige Taufe die Folge der Sünde (den leiblichen Tod) zwar nicht auf, jedoch die Unheilsfolge der Sünde, den seelisch-geistigen Tod wird vernichtet. Insofern ist der Empfang der heiligen Taufe ein geistlich-sakramentales Anteilbekommen am Tod und der Auferstehung Christi. Diese ganz reale sakramentale Anteilhabe am Mysterion der Auferstehung verwandelt auch unseren leiblichen Tod in eine geistliche Passage in das ewige Leben. Diese besondere sakramentale Verbindung zwischen Christi Tod und der Gabe des ewigen Leben, die wir durch dem Empfang der heiligen Taufe an unserer gesamten Person mit Seele, Geist (griechisch νους = „nous“) und Leib empfangen, hat der heilige Apostel Paulus im Römerbrief deutlich angesprochen: „Wisst ihr nicht, dass alle, die wir in Christus getauft sind, die sind in Seinen Tod getauft? So sind wir nun mit Ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Laben wandeln“ (Römer 6:3-34). Dieses „Mit- Christus-Sterben“ im Mysterion der heiligen Taufe wird liturgisch real gegenwärtig durch das rückwärtige Hinsinken des Täuflings in und unter das Wasser im Taufbeckeniii. Der Eintritt in das neue Leben mit dem Auferstandenen Herrn Jesus Christus wird im Mysterion der heiligen Taufe ebenfalls in dem Augenblick gegenwärtig, wenn der Täufling aus dem Taufbecken nach Osten hin aufgerichtet wird, sich also gleichsam vom geistlichen Sündenschlaf erhebt, um nun in einem neuen Leben in Jesus Christus zu wandeln.

Im liturgischen Vollzug des Sakramentes vollzieht sich durch das ganz real heiligende und heilgmachende Zeichen an unser gesamten Person die gnadenhafte Anteilnahme am in Christi Heilshandeln für uns gegenwärtig gewordenen Heil. Im Mysterion werden die Menschwerdung Gottes, das Jordanwunder, das Opfer von Golgotha und die siegreiche Auferstehung an uns gegenwärtig, denn wir steigen mit Christus in den Tod und bekommen in der Taufe gleichzeitig Anteil an der Kraft Seiner Auferstehung. In der heiligen Taufe wird deshalb auch bereits der sakramentale Keim für unsre eigene leibliche Auferstehung in uns gelegt, das heißt, so wie der Hades, das Reich des Todes, den in ihn eingegangenen wahren Gott und wahren Menschen Jesus Christus nicht festhalten konnte, so muss es auch uns am Jüngsten Tag wieder freilassen. Dem Tod bleibt dann nicht einmal unser Leib. Deshalb sagt auch der heilige Johannes Chrysostomos: „Der Tod ist nichts als ein Ruhen, eine Reise, ein Übergang von einem unvollkommenen Zustand in einen vollkommenen Zustand.“ So ist auch unser physische Tod nur zeitlich bis zur zweiten Wiederkehr des Herrn, wenn unser Leib auferweckt und sich mit unserer Seele wieder vereinen wird zu einer besonderen Form der Existenz, der wir hier auf Erden nur im Glauben begegnen können.

So stirbt der Christ, und seine Seele, die „beim Austritt aus dem Körper wegen der Todesfurcht” bis zu einem gewissen Grade “gereinigt” wurde - wie der heilige Mark von Ephesus sagt -, verlässt den leblosen Körper. Aber während der Körper und der Geist des Menschen sterblich und vergänglich sind, so ist seine Seele unsterblich. Sie ist und bleibt lebendig. Jedoch unterscheidet sich nun ihr jetziges Leben von ihrem Leben in der vorangegangenen Zeit, als sie noch mit dem Körper und dem Geist vereinigt war. Die Seele lebt nach dem leiblichen Tod des Menschen genau jenes Leben weiterlebt, das sie vor dem Tode des Geistes und Leibes auf der Erde begonnen hat: mit all ihren Gedanken und Gefühlen, mit ihren Tugenden und Lastern. Das Leben der Seele nach dem Tode ist also eine natürliche Fortsetzung und Folge des irdischen Lebens der damals noch mit Geist und Körper vereinigten Person.

Wenn der verstorbene Christ fromm war, zu Gott betete, auf Ihn hoffte, sich Seinem Willen unterordnete, Reue vor Ihm übte und sich bemühte, nach Seinen Geboten zu leben, dann fühlt seine Seele nach dem Tode mit Freude die göttliche Gegenwart und hat sofort in größerem oder kleinerem Maße je nach der während des Erdenlebens mit Gottes Gnade verwirklichten Heiligkeit Anteil an dem innergöttlichen Leben der Allheiligen Dreiheit, was die heiligen Väter die Theosis nennen.

Aber aus Sicht der christlich-orthodoxen Kirche lebt jeder Mensch auf Erden im Zustand des „geistlichen Todes“, solange er durch den Unglauben von Gott getrennt ist. Wenn dieser geistliche Tod aber bis zum Ende des irdischen Lebens andauert, dann kann der irdische Tod zum ewigen Tod werden, also zur endgültigen Trennung von Gott. Wenn also der Verstorbene im Laufe seines irdischen Leben die Gemeinschaft mit Gott, dem uns liebenden himmlischen Vater verloren hat, Ihn nicht suchte, nicht zu Ihm betete, durch die Selbstauslieferung an die Leidenschaften (Laster) frevelte und so den Sünden hörig war, dann findet seine Seele auch nach dem Tode nicht den Weg zu Gott. Sie wird eben dann auch nicht fähig sein, die allgegenwärtige göttliche Liebe zu fühlen, denn Gott respektiert im Leben wie im Tode die Integrität der menschlichen Freiheit und damit die schöpfungsgemäße Persönlichkeitswürde des Menschen (so der heilige Justin von Celije). Da die Seele jedoch nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, beginnt die unbefriedigte, ja fehlgeleitete Seele dann, beraubt der Gemeinschaft mit jenem innergöttlichen Leben (der Theosis), für das der gottähnliche Mensch seiner wahren Natur nach erschaffen wurde, zu leiden und sich quälen. Diese selbstgewählte Gottesferne ist die Hölle und die Sehnsucht nach der göttlichen Gemeinschaft ist ihr verzehrendes Feuer.

Da die Seele des Verstorbenen sich in der jenseitigen Welt nicht von alleine wandeln noch das erwerben, kann, was sie wegen ihres mangelhaften geistlichen Strebens nach der Liebesgemeinschaft mit Gott während des irdischen Leben nicht durch die Mitwirkung mit der göttlichen Gnade erworben hat, braucht sie jetzt in ganz besonderer Weise Hilfe.

Deshalb besitzt das Gebet für die Verstorbenen in der orthodoxen Kirche diesen besonderen geistlichen Stellenwert. Es ist unsere geistliche Hilfe für die Seelen der Entschlafenen, wenn sie sich selbst nicht mehr helfen können. Wir vertrauen als Christgläubige einerseits fest auf Gottes Liebe

und Barmherzigkeit, mit der Gott die Seele eines jeden von uns umfangen wird, wenn wir uns nach dem Ende unseres Erdensleben auf jene große Reise begeben, die uns heim in Sein Vaterhaus führen wird. Anderseits wissen wir uns dann aber auch Seinem vorläufigen Gericht überantwortet. Deshalb wird sich unsere Seele mit Furcht und Zittern wegen unserer eigenen, so offensichtlichen Unwürdigkeit und Sündhaftigkeit jener Begegnung dem lebendigen, allheiligen Gott nähern. Diese ernsthafte und furchtbare Wägung unseres Lebens, die damit beginnen wird, dass wir nach unserem Tode in Begleitung unseres Schutzengels die Zollschranken durchschreiten müssen, an denen der Teufel und seine Dämonen uns vor Gottes Gerechtigkeit verklagen werden, findet ihren vorläufigen Abschluss vor Gottes Angesicht, wo wir vor dem allsehenden Auge des lebendigen Gottes dann werden erscheinen müssen. Zwar wissen wir, dass Gottes Gericht, dem wir dort dann überantwortet werden, vollkommen anders sein wird, als die hartherzige Gerechtigkeit dieser Welt. Zugleich aber werden wir unser gesamtes Leben, Sein Wollen, Seine Antriebe und Handeln überblicken und über unser Unterlassen, unsere geistliche Lauheit und mangelhafte Heiligkeit in Furcht erschaudern.

Deshalb betet die orthodoxe Kirche unablässig in jeder eucharistischen Liturgie für alle Entschlafenen. In allen unseren orthodoxen Gottesdiensten erbitten wir von Gott „ein christliches Ende unseres Lebens, ohne Qual und Schande und in Frieden und eine gute Rechtfertigung vor dem ehrfurchtgebietenden Richterstuhl Christi“. Ein „christliches Ende“ freilich kann nur der haben, der sich sein ganzes Leben darum bemüht hat, Christus nachzufolgen oder der durch Reue und Buße zu Christus umgekehrt ist. Wir beten auch um ein „gute Rechtfertigung vor dem ehrfurchtgebietenden Richterstuhl Christi“, weil nach dem Tod das vorläufige Gericht für einen jeden von uns folgen wird.

Als orthodoxe Christen versuchen wir die tiefe Ernsthaftigkeit dieser Begegnung mit Gottes Gericht, die mit unserem letzten Atemzug beginnen wird, nicht kleinzureden oder zu psychologisieren. Aber als orthodoxe Christen sind wir auf dem Weg zu dieser Begegnung mit Gott, vor dessen Allheiligkeit wir in unserer Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit zutiefst erschrecken werden, nicht allein. Bereits in unserer Todessstunde steht unser heiliger Schutzengel bei uns, um uns zu begleiten. Auch die übrigen Engel und Heiligen, vor allem die Allheilige Gottesgebärerin, versammeln sich zur Fürbitte für uns. Mit ihnen treten auch die noch im Erdenleben stehenden Gläubigen betend für uns zusammen, um für die jetzt zu Gottes sichtbarer Gegenwart eingehende Seele Gebet und Fürbitte zu halten. Was der orthodoxe Gläubige in den vergangenen Tagen seinem Erdenleben in jeder Feier der Göttlichen Liturgie liturgisch mit vollzogen hat, das wird nun für Ihn ganz sichtbar. Die ganze Gemeinschaft der Heiligen Kirche, die Allheilige Gottesmutter, alle Engel und Heiligen, aber auch die Gläubigen auf Erden versammeln sich, um mit ihren Gebeten gleichsam eine Arche des Heiles zu erbauen, auf der die Seele vor Gottes erbarmendes Angesicht getragen wird. Das Gebet für die zu Gott Entschlafenen ist deshalb nach orthodoxem Verständnis ein geistliches Werk der gegenseitigen Nächstenliebe. Wie das uns durch Christi Auferstehung geschenkte ewige Leben, das wir im Sakrament der heiligen Taufe empfangen und durch dem Empfang der übrigen Sakramente gestärkt und in einem christlich orientierten Leben auferbaut haben, mit dem Ende dieses zeitlichen Lebens nicht aufhört, sondern sich vielmehr dort geistlich vollendet, so hören auch die Entschlafenen nicht auf zum mystischen Leib Christi zu gehören.

Denn unser aller Heiland Jesus Christus, der Erretter des Menschengeschlechtes, ist und bleibt bis zum Jüngsten Tage in Seiner Heiligen Kirche gegenwärtig. Er ist das Haupt der Kirche und wir sind Glieder seines mystischen Leibes, in den wir durch den Empfang der heiligen Taufe eingegliedert wurden. Im mystisch-sakramentalen Leib der Kirche ist die von der Sünde verdorbene Einheit der menschlichen Natur in der Einheit mit Gott durch die Fleischwerdung des Sohnes Gottes wiederhergestellt. In dieser kirchlich-sakramentalen Einheit, die ähnlich der Einheit der Personen der Allheiligen Dreiheit ist, vollendet sich das Mysterion unserer Erlösung nicht nur zu unseren Lebzeiten, sondern durch Gottes Gnade vollzieht sich das Geheimnis der Veredelung und der Erneuerung der verstorbenen Seele durch Christus unseren barmherzigen Herrn und Erlöser.

In menschlich-vereinfachender Weise meinen einige, dass die Gebete für die Verstorbenen das Ziel verfolgen würden, Gott barmherziger zu stimmen und Ihn zum Vergeben unserer Sünden geneigter zu machen. Dabei vergessen wir dann, dass Gott seinem Wesen nach vollkommen unwandelbar ist. Seinem Wesen nach ist Gott grenzenlose, unendliche und allumfassende Liebe. Er liebt uns, sowohl die Guten also auch die Schlechten, mehr als wir uns selber lieben können. Deshalb hat Er auch Seinen Eingeborenen Sohn zu unserer Erlösung in Welt gesandt.

Die zu Gott entschlafenen Christgläubigen, die unserem Herzen nahe stehen, werden durch unser Gebet nicht aus einem „Fegefeuer“ gerettet, sondern wir vertrauen als orthodoxe Christen vielmehr fest darauf, dass wenn wir uns mit unserer zwar unvollkommenen, aber dennoch aus der Tiefe unserer gläubigen Herzen kommenden Nächstenliebe mit jener vollkommenen, unüberbietbaren und bedingungsloser Menschenliebe Gottes in liebender Synergeia vereinen dürfen, dass dann Gottes nicht zu besiegende und errettende Liebe alles das, was im Leben des einzelnen verewigten Gläubigen noch unvollkommen war, vollkommen machen wird. Nicht unser Gebet errettet, sondern es appelliert mit unserer demütigen Fürbitte an Gottes Liebe, die sich in Christi Heilshandeln offenbart hat. Auch machen unsere Gebete für die Entschlafenen Gott nicht barmherziger, aber sie bringen in den Seelen derer, für die wir beten, einen Wandel zum Besseren hervor, den sie allein nicht mehr vollziehen können. Und nicht das liturgisch-kirchliche Gebet allein, sondern sogar ebenfalls das persönliche Gebet hat diese erneuernde Wirkung und bringt die Seelen der Entschlafenen näher zu Gott. Deshalb gehört das Gebet für die Sterbenden und für die bereits zu Gott entschlafenen Christgläubigen zu den heiligen Werken der christlichen Barmherzigkeit.

Zugleich aber ist sich die orthodoxe Kirche mit großer Ernsthaftigkeit darüber bewusst, dass mit dem Ende des Erdenlebens auch der geistliche Glaubensweg zu einem Endpunkt gekommen ist. Während wir auf Erden leben, haben wir jederzeit die Möglichkeit, unserem Leben eine Wendung zur Gemeinschaft mit Gott zu geben, indem wir unsere Sünden bereuen, sie im Sakrament der heiligen Beichte aufrichtig bekennen und durch den Priester die Lossprechung erhalten, durch den Empfang der übrigen heiligen Sakramente, vor allem durch die heilige Kommunion mit der Göttlichen Eucharistie, auf unserem geistlichen Lebensweg gestärkt werden und durch ein ernsthaftes geistliches Leben die empfangenen Gnadenwirkungen der heiligen Sakramente mehr und mehr zur Entfaltung gelangen lassen, damit wir dadurch mehr und mehr in der gnadenhaften Liebensgemeinschaft mit Gott zur Theosis heranwachsen. Mit dem Ende unseres irdischen Lebens endet auch unsere Möglichkeit, Einfluss auf unser endgültiges Los nehmen. Nur die Gläubigen, die weiterhin auf der Erde leben, können den Entschlafenen dann mit ihrem Gebet helfen.

Hierbei ist es aber wichtig zu bedenken, dass die Kirche aufgrund der Erfahrungen des geistlich-kirchlichen Lebens weiß, welche entschlafenen Christgläubigen bereits währen ihres irdischen Lebens eine so großes Maß der innigen Gemeinschaft mit Gott erlagt haben, dass sie als Heilige vor Gottes Thron stehen, um für uns zu beten. Jedoch maßt sich die Kirche kein Urteil darüber an, wer zu den Verlorenen gehört und sich in der Hölle befindet. Ein jeder Mensch kann noch einen kurzen Augenblick vor seinem Lebensende bereuen und dadurch Gottes Barmherzigkeit erlangen. Hierfür ist der heilige Dismas, der gute Räuber, der an der Seite Christi gekreuzigt wurde, das leuchtende Beispiel. In jeder Feier der Göttlichen Liturgie beginnen wir den Gesang der Seligpreisungen, die uns den Weg zum Heil aufzeigen, mit seiner demütigen Bitte an Christus: «Herr, gedenke meiner, wenn Du kommst in dein Reich». Die Zwischenverse zu den Seligpreisungen aus dem Buch des Oktoich legen uns dann diese Geisteshaltung noch weiter aus, die Christus mit Seinem erlösenden Versprechen beantwortet hat: «Wahrlich ich sage dir: Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein».

So geben auch wir mit unseren Gebeten für die Entschlafenen unserer Hoffnung auf die unendliche Liebe und das grenzenlose Erbarmen Gottes einen tiefen geistlichen Ausdruck. Zugleich sind sie auch ein gelebter Hinweis in unserer so diesseitsorientierten Umwelt auf unseren unverbrüchlichen orthodoxen Glauben an die Realität des ewigen Lebens. All unsere privaten und liturgischen Gebete, unsere Almosen und frommen Gaben, unsere gute Taten, die wir um dieses oder jenes Toten willen tun, bringen den Seelen der entschlafenen orthodoxen Christen in der jenseitigen Welt Erquickung, Ruhe und Freude. Vergessen wir deshalb nicht, täglich für sie zu beten!

Ewiges Gedenken - Вечная память!

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