Für uns orthodoxe Christen beginnt die Vorbereitung auf das Fest der Geburt Christi (am 25. Dezember) mit einer Vorbereitungszeit, dem Philippus- oder Weihnachtsfasten. Bereits vierzig Tage vor dem Weihnachtsfest treten wir geistlich in die Zeit des Weihnachtsfastens ein. Als Menschen, die aus einer Einheit aus Geist, Seele und Leib bestehen, brauchen wir jeweils – damit wir in der rechten geistlichen Haltung an den Gedächtnisfeiern der großen Heilstaten Gottes teilnehmen - eine besondere Zeit der seelischen, geistlichen und körperlichen Hinführung. Die vier Fastenzeiten sind solche Zeiträume der geistlichen Hinführung im kirchlichen Jahreslauf, während derer wir uns auf das jeweils kommende Festgeheimnis einstimmen können. Wir bereiten uns in dieser Zeit geistlich und leiblich angemessen darauf vor, uns der spirituellen Wirklichkeit des jeweiligen Festes annähern zu können. So bereiten wir uns durch die Weihnachtsfasten darauf vor, dass wir mit den geistlich gereinigtem Augen unserer Herzen und Seelen das große Glaubensgeheimnis des Kommens unseres Herrn und Erlösers und Gottes Jesus Christus dem Fleische in die Geburtshöhle in Bethlehem zu erblicken vermögen und an der hieraus kommenden echten Weihnachtsfreude teilhaben können.
Die Vorbereitungszeit auf das Weihnachtsfest beginnt am 15. November. Dies ist der Tag nach dem Gedenktag des heiligen Apostels Philippus. Deshalb wird die Fastenzeit auch „Philippus-Fasten“ genannt. Die Weihnachtsfastenzeit in der orthodoxen Kirche dauert vom 15. November bis zum Vorabend des ersten Weihnachtstages (24. Dezember).
Die orthodoxe Kirche bereitet sich auf die Feier des Weihnachtsfestes bis heute mit den althergebrachten Regeln der östlichen Christenheit vor.
Dabei ist aber jeweils zu beachten, dass sich der kalendarische Zeitpunkt des Weihnachtstages nach dem gebräuchlichen Kirchenkalender in den verschiedenen orthodoxen Lokalkirchen richtet. So dauert nach den Daten des modernen, bürgerlichen Kalenders die Weihnachtsfastenzeit bei den „Neukalendariern“ vom 15. November bis 24. Dezember, bei den „Altkalendariern“ jedoch vom 28. November bis 6. Januar. Aber auch die „Altkalendarier“ (wie die russische Kirche) feiern Weihnachten nicht am 07. Januar, sondern am 25. Dezember des kirchlichen Kalenders, der dem 07. Januar des bürgerlichen Kalenders entspricht.
In der Zeit der noch ungeteilten Kirche war auch die Adventszeit bei unseren abendländischen Mitchristen eine vorweihnachtliche Fastenzeit. Das Adventsfasten im römischen Patriarchat folgte jedoch nicht ganz so strengen Regeln wie in den übrigen Patriarchaten im Osten der orthodoxen Christenheit. So war damals den Christen im Abendland der Verzehr von Fisch, Eiern und Milchprodukten in der vorweihnachtlichen Fastenzeit erlaubt. Mit diesen Fastenregeln im Osten und im Westen der damals noch unterschiedlichen geeinten Kirche erklären sich die heutigen unterschiedlichen Traditionen der Vorweihnachtszeit. Hierher rührt sowohl das besondere Adventsgebäck, als auch die westliche Tradition, am Vorabend des Weihnachtsfestes (24. Dezember) Karpfen zu essen. Im Abendland endete der Fleischgenuss damals mit dem Fest des Heiligen Martin Bischofs von Tours am 11. November. Mit dem 12. November begann dann das sechs Wochen dauernde Adventsfasten. Bereits im Mittelalter wurde die Adventszeit dann verkürzt, so dass die Vorweihnachts- oder Adventszeit bei den abendländischen Christen heute nur noch vier Wochen dauert. Das Wort „Advent“ kommt von „Adventus Domini“ und bezeichnet die „Ankunft des Herrn“, also die Geburt unseres Erlösers Jesus Christus an Weihnachten.
Die orthodoxe Weihnachtsfastenzeit endet erst mit dem ganznächtlichen Gottesdienst am Heiligen Abend, der liturgisch bereits zum ersten Weihnachtsfeiertag gehört. Der Vorabend des Weihnachtsfestes ist ein strenger Fasttag. Dieses strenge Fasten ist eigentlich ein eucharistisches Fasten, denn die erste Festliturgie des Weihnachtsfestes wird jeweils mit der Vecernja (Vesper) verbunden gefeiert. Deshalb sagt der russische Volksmund: „Das Weihnachtsfasten endet, wenn am Heiligen Abend der erste Stern am Himmel zu sehen ist“. Das Weihnachtsfasten wird in den kirchlichen Büchern seit dem vierten Jahrhundert erwähnt. In seiner heutigen Ausprägung existiert es seit dem 12. Jahrhundert.
Folgende Gedenktage fallen in diese Fastenzeit: Heiliger Evangelist und Apostel Matthäus (16. November), Einzug der allheiligen Gottesgebärerin in den Tempel (21. November), Heiliger Apostel Andreas (30. November), Heilige Großmärtyrerin Barbara (04. Dezember), Heiliger Erzbischof Nikolaus von Myra (06. Dezember), Heiliger Bischof Spyridon von Trimythunt und Heiliger German von Alaska (12. Dezember) und die Heiligen Märtyrer Eustratius, Auxentius, Eugen, Mardarius und Orest (13. Dezember).
In den Verlauf der vorweihnachtlichen Fastenzeit fallen mehrere Gedenktage, an denen wir uns an die heiligen Propheten des Alten Bundes erinnert, die die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus vorherverkündet haben: Obadja (19. November), Nahum (01. Dezember), Habakuk (02. Dezember), Zefanja (03. Dezember), Haggai (16. Dezember), Daniel und die drei heiligen Jünglinge Ananias, Azarias und Misael im Feuerofen (17.Dezember).
Die beiden letzten Sonntage vor dem Fest der Geburt Christi haben jeweils einen ganz besonderen Charakter und sind der Erinnerung aller alttestamentlichen Heiligen gewidmet, welche durch den Glauben an den kommenden Heiland erlöst wurden. Der erste von diesen beiden Sonntagen heißt: „Sonntag der Ahnen oder Vorväter“ und ist der Erinnerung an die heiligen Patriarchen von Adam bis auf Joseph, dem Bräutigam der heiligen Immerjungfrau Maria und an die heiligen Propheten, von Samuel bis auf Johannes den Täufer, gewidmet. Der zweite dieser beiden Sonntage heißt: „Sonntag der heiligen Väter“. Er ist dem Gedächtnis der leiblichen Vorfahren unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus gewidmet. Im Gottesdienst wird uns dann der Stammbaum Christi aus dem Matthäusevangelium vorgelesen.
Diese beiden vorweihnachtlichen Sonntage, weisen uns geistlich darauf hin, dass unser Herr und Erlöser Jesus Christus genau zu dem Zeitpunkt zu unserem Heil geboren wurde, als „die Zeit erfüllt war“ (vgl.: Galater 4:4), das heißt, dass die Menschen eine lange Zeit der Vorbereitung gebraucht haben, um dem Kommen des menschgewordenen Gottes innerlich begegnen zu können. Gott bietet uns Sein Heil an, jedoch kommt das Heil nicht ohne die Synergeia, das Mitwirken des Menschen, zu uns. So hatte Gott Jahrtausende gewartet, bis Ihm ein Mensch auf Erden sagen konnte: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ So ist das freiwillige „Ja“ der allheiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria zur Inkarnation des Gottessohnes aus ihrem allreinen Leibe das Ziel jener Jahrtausende langen Vorbereitungszeit, die sich in der Genealogie des Herrn abbildet.
Aber auch das Heil jedes einzelnen Menschen beginnt mit jener Inkarnation des Gottessohnes aus der allheiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria. Denn die leibliche Geburt des Sohnes Gottes aus der allheiligen Immerjungfrau ist auf geistlich-reale Weise zugleich der Anfang der mystischen Gottesgeburt im Herzen eines jeden Menschen, der sich geistlich dafür öffnet und den Willen Gottes tut. Somit ist das Geheimnis der Geburt Christi zugleich auch die Grundlage der geistlichen Entwicklung und Vervollkommnung eines jeden Menschen, der nach der lebendigen Gemeinschaft mit Gott, die die Heiligen Väter die Vergöttlichung nennen, strebt. Dies wird im Namen „Jesus“ deutlich, der dem in Bethlehem geboren Kind gegeben wird: Dieser Name bedeutet übersetzt „Gott errettet“ oder „Gott ist mit uns“. Der zu unserem Heil leibhaft in unsere Welt gekommene Sohn Gottes errettet all jene, die an Ihn glauben.
Um diesem Glaubensgeheimnis geistlich in rechter Weise begegnen zu können, bedürfen wir Menschen einer längeren Zeit der inneren Vorbereitung. Durch die vorweihnachtliche Fastenzeit hilft uns Gott, damit wir diesem Fest auf innerlich-geistliche Weise begegnen können.
Die Fastenzeit, die uns auf das Weihnachtsfest vorbereitet, ist nicht so intensiv liturgisch durchgestaltet, wie es für die Große Fastenzeit vor Ostern so typisch ist. Das Weihnachtsfasten ist also eher „asketischer“ als „liturgischer“ Natur. Trotzdem spiegelt sich auch die weihnachtliche Fastenzeit im Leben der Kirche in einer Reihe besonderer, liturgischer Zeichen, die das kommende Fest für uns ankündigen.
So leuchtet während der 40 Tage der adventlichen Vorbereitung bereits das große geistliche Thema der kommenden Geburt unseres Heilandes allmählich in unseren Gottesdiensten auf. Wenn auch noch nicht ganz zu Beginn der Fastenzeit am 15. November, so hören wir doch bereits fünf Tage später, am Vorabend des Festes des Einzugs der allheiligen Gottesgebärerin in den Tempel, die an uns danach wieder und wieder ergehende Aufforderung des Weihnachtskanons: „Christus ist geboren, verherrlicht IHN!“ Christus steigt von den Himmeln herab, heißt IHN willkommen! Christus ist jetzt auf der Erde, freut euch! Singt dem Herrn alle Welt und preist ihn, alle Menschen, denn Er wurde erhöht!“ Bei diesen Worten verändert sich etwas in den Herzen der Menschen. Nicht nur bei uns gläubigen Christen, sondern oft auch bei vielen unserer heute so entkirchlichten und säkularisierten Mitmenschen wird in dieser vorweihnachtlichen Zeit das Herz mit einer großen seelische Hoffnung erfüllt. Wir können daran erkennen, welch große, oft uneingestandene Erwartung nach dem Kommen des Christus-Emanuel, des Heilandes und Erretters die Herzen aller Menschen erfüllt.
Unsere heilige orthodoxe Kirche lädt uns mit der Weihnachtsfastenzeit und ihren Gottesdiensten ein, uns dieser Ankunft Gottes zu öffnen. Mit dem erklingen des Weihnachtskanons können wir - noch ganz weit weg -das erste Licht der größtmöglichen Freude wahrnehmen. Gleich den Weisen aus dem Morgenland folgen wir dem Stern von Bethlehem. Auch wir ziehen durch die Weihnachtsfastenzeit geistlich dem Sterne nach, der uns zur Ankunft Christi in dieser Seiner Welt hinführen will. Mit den Worten des Hymnus: „Christus ist geboren, verherrlicht IHN!“ Christus steigt von den Himmeln herab, heißt IHN willkommen! Christus ist jetzt auf der Erde, freut euch!“ verändert sich etwas in unserem Leben, in der Atmosphäre unserer Empfindungen, in der ganzen Stimmung des Lebens.
Die Gottesdienste der Kirche, aber auch die uns umgebenden Lieder unserer abendländischen Mitchristen, die diese vorweihnachtliche Zeit erfüllen, rufen uns das Kommen Christi zu. Sie „verkünden uns große Freude“, denn uns wird „Christus der Herr geboren werden, in der Stadt Davids“. Jetzt kommt die Zeit der großen Freude über die Menschwerdung Christi, unseres Gottes, Sein Eintritt in die Welt zu unser aller Erlösung, heran.
Mit der ganzen materiellen und geistigen Schöpfung preisen und verehren wir als orthodoxe Christen den Hervorgang des Sohnes und Wortes Gottes aus der allheiligen Immerjungfrau und Gottesgebärerin Maria. Denn in Christus-Emanuel, dem Kind, das in Bethlehem zu unserem Heil geboren wird, begegnen wir dem menschgewordenen Sohn Gottes, unserem Licht und Heil, dem Beschützer unseres Lebens. So beugen wir mit den heiligen drei weisen Magiern die Knie unserer Herzen und jubeln zusammen mit den heiligen Propheten David, dem Sänger der Psalmen: „Vor wem sollten wir uns fürchten?“ (vgl. Psalm 26:1 LXX). Als gläubige Christen bekennen wir am Weihnachtstag: “Heute ist uns der Heiland geboren” (Lukas 2:11), “der Herr der Mächte und König der Herrlichkeit” (Psalm 23:10 LXX). Deshalb grüßen wir uns in der russischen Tradition am Weihnachtsfest mit den Worten: „Christus ist geboren! Verherrlicht IHN!“
Bei dieser lichten Feier gehen uns die heiligen Engel voran mit dem Lobpreis, indem auch wir in der Christnacht mit einstimmen werden: “Ehre sei Gott in den Höhen und Friede auf Erden, bei den Menschen Wohlgefallen!”